Die Flüchtlingsdebatte in der italienischen Gesellschaft spiegelt sich auch auf dem italienischen Buchmarkt wieder – in Sachbüchern und Romanen. Im neuesten Roman des italienischen Schriftstellers Erri de Luca spielen Geflüchtete eine Hauptrolle. "Den Himmel finden" heißt der deutsche Titel und Christine Gorny hat das Buch gelesen.
Erri de Luca, Den Himmel finden, List
Hauptfigur ist ein Bildhauer in einem abgeschiedenen Bergdorf an einer Landesgrenze Italiens, vermutlich zu Österreich oder zur Schweiz. Nachts schleust er Flüchtlinge über die Grenze, gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern. Allerdings nimmt er im Gegensatz zu den anderen Schleusern kein Geld für seine Dienste. Er ist also der Gute, der dann jedoch von den profitgierigen Bösen aus seinem Dorf verjagt und selbst zum Flüchtenden wird. Und damit beginnt ein zweiter Handlungsstrang des Romans, der offenbar als eine Art religiöser Überbau zu dieser Geschichte zu verstehen ist.
Der Bildhauer bekommt einen etwas delikaten Job in der namenlosen Stadt am Meer, in die er aus den Bergen geflohen ist. Er soll eine lebensgroße Christusstatue restaurieren. Die war ursprünglich splitternackt, wurde aber nachträglich mit einem Lendenschurz aus Granit versehen und soll nun wieder in den nackten Originalzustand versetzt werden. Allerdings wird die Plastik beim Abklopfen des Lendenschurzes unbeabsichtigt entmannt, sodass ein neuer göttlicher Penis aus Marmor gemeißelt werden muss. Und während dieser Arbeit identifiziert sich der Bildhauer so stark mit dem leidenden Christus am Kreuz, dass er sich beispielsweise selbst nach alttestamentarischer Sitte beschneiden lässt.
Ja, göttlich grotesk geradezu. Nur leider macht Erri de Luca eine vollkommen Ironie-freie Geschichte daraus, die höchstens unfreiwillig komisch wirkt, weil sie so bedeutungsschwer pathetisch daherkommt. Ein Beispiel: Als der Bildhauer und Ich-Erzähler unter dem abgeschlagenen Lendenschurz aus Granit schließlich den Penis vorfindet, heißt es: "Die angedeutete Erektion ist das ergreifendste Detail aller christlicher Bilder". Gewissermaßen "Ein Hoch auf den Glauben" – allerdings ich bin mir nicht sicher, ob Kunsthistoriker dem so zustimmen würden.
Ich habe mir im Netz Interviews von Erri de Luca aus dem italienischen Fernsehen angehört. De Luca sieht die katholische Kirche dank Papst Franziskus in einer Erneuerungsphase. Demnach verweist der Roman vielleicht auf eine modernisierte Kirche – quasi ohne Lendenschurz. Außerdem geht es im Roman immer wieder um das Gefühl der Barmherzigkeit, das der Bildhauer sehr intensiv empfindet, während er den sterbenden Christus mit Hammer und Meißel bearbeitet. Barmherzig zeigt sich ja auch der Protagonist als Schleuser gegenüber den Flüchtlingen in den Bergen. Diese beiden Handlungsstränge liegen allerdings ziemlich unverbunden nebeneinander herum.
Überhaupt kommt mir die gesamte Geschichte nicht nahe, weil sie viel zu pathetisch erzählt wird. Jeder alltägliche Handgriff, jeder belanglose Dialog wird weihevoll überhöht. Etwas bemüht streut der Autor ab und an Zitate aus der Bibel ein, von Philosophen und Schriftstellern, Puschkin, Primo Levi, Epikur – bunt zusammengewürfelt wie im Poesiealbum. Im Vorwort des Buches wird es als "eine theologische Erzählung" angekündigt. "Religiöser Kitsch" wäre allerdings auch nicht falsch.
Ich fand es interessant zu sehen, welche Blüten eine Literatur mittlerweile treiben kann, die vom Thema Flucht inspiriert ist. Die Perspektive dieses Buches hat da schon einen sehr schrägen Einfallswinkel. Dabei sind die Themen, die de Luca anpackt, durchaus aktuell und spannend, wie auch der ewige Konflikt um menschliche Nacktheit in der kirchlichen Kunst. Reinheit und Freizügigkeit, Wahrheit und Moral in der Religion, das sind ja zeitlose Spannungsverhältnisse – aber leider hat Erri de Luca die nicht aufgegriffen. Aber immerhin habe ich ein etwas übers Bildhauern, meißeln, klopfen und polieren gelernt.
Infos:
Erri de Luca: Den Himmel finden, Übersetzung: Annette Kopetzski, List Verlag, 190 Seiten, 17 Euro.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 19. Juni 2018, 9:20 Uhr
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