Tommy Wieringa gehört zu den bekanntesten niederländischen Autoren. Seine Romane landen in seiner Heimat verlässlich auf Bestsellerlisten und werden auch international immer mehr beachtet. Der ehemalige Journalist greift in seinen Büchern aktuelle gesellschaftliche Themen auf. In "Santa Rita" geht es um Sonderlinge und Antihelden. Christine Gorny hat ihn gelesen.
Audio: Tommy Wieringa: Santa Rita
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Tommy Wieringa führt uns in die tiefe Provinz und zwar ins niederländisch- niedersächsische Grenzgebiet. "Wölfe ja, Geldautomaten nein" – heißt es lakonisch bei der Beschreibung dieses Landstriches. Dabei geht es Wieringa natürlich nicht nur um eine geografische Randlage, sondern vor allem auch um die geistige Provinz. Wer etwas aus seinem Leben machen wollte und konnte, hat das Dorf längst verlassen. Geblieben sind die Verlierer, die hier nun immer weiter abgehängt werden. Konsequenterweise bevölkern nur Antihelden dieses Dorf beziehungsweise diesen Roman.
Paul Krüzen ist ein 49-jähriger Junggeselle, der noch immer auf dem elterlichen Hof lebt, gemeinsam mit seinem mittlerweile pflegebedürftigen Vater. Krüzen verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Uniformen und Militär-Devotionalien, die er nach dem Mauerfall in Ostdeutschland billig erstanden hat. Seine privaten Kontakte beschränken sich auf einen ehemaligen Schulfreund, der den elterlichen Tante-Emma-Laden weiter führt, und auf asiatische Prostituierte in einem Bordell im nahen Deutschland. Insgesamt verlässt Paul Krüzen sein Heimatdorf nur selten und wenn er mal mit seinem Schulfreund auf einschlägige Reisen nach Thailand geht, plagen ihn schmerzhafte Heimwehattacken.
Als Kind wurde Paul Krüzen von seiner Mutter verlassen, die mit einem russischen Piloten durchbrannte. Seitdem lebt der verlassene traumatisierte Sohn mit seinem depressiven Vater zusammen, einem Lehrer, der seinem schwächlichen Sohn ständig einen Muster-Schüler aus seiner Klasse namens Viktor vorhält. Auch als Erwachsener vergleicht Paul Krüzen sich noch immer mit diesem Victor-Phantom – wodurch er sein eigenes Scheitern noch jämmerlicher erscheinen lässt.
Paul Krüzen hat große Probleme im Umgang mit Frauen. Jenseits der käuflichen Liebe hat er keinerlei Erfahrungen gesammelt. Seine Lieblingsprostituierte in seinem Stammbordell heißt Rita. Sie ist Philippinin. Und als Krüzen mit seinem Schulfreund auf die Philippinen reist, kauft er an einem Straßenstand ein Medaillon der heiligen Rita für seine nicht so heilige Rita, die die Kette dann ständig um den Hals trägt. Übrigens steht "Santa Rita" in der Reihe der katholischen Heiligen für die ganz aussichtslosen Fälle – also genau die, um die es in diesem Roman geht.
Der Roman zeichnet aber kein durchgängig negatives Bild der Provinz. Dass es auch andere Zeiten gab, zeigt Wieringa, indem er Paul Krüzens Familiengeschichte aufblättert. Er widmet sich der Geschichte des Dorfes in den letzten 50 Jahren, als die Strukturen dort noch intakt waren, mit Lebensmittelläden, Gasthäusern und sonntäglichem Gottesdienst. Später wird dann das Dorfgasthaus von Chinesen übernommen, Kirchengemeinden werden zusammengelegt, der Tante-Emma-Laden verkommt. Stillstand breitet sich aus. Und dieser Verfall des Dorflebens geht mit einem allgemeinen Werteverfall einher.
Wieringa ist ein genauer Beobachter, aber auch ein mitfühlender Versteher, der hier ein ganzes Milieu realistisch und plastisch entstehen lässt und einem die Figuren gefühlsmäßig nahe bringt. Zugleich findet er starke Metaphern, hauptsächlich eindrucksvolle Naturbilder, die den Überlebenskampf in der Provinz manchmal drastisch veranschaulichen, wenn etwa ein verlassenes Hasenjunges auf dem frisch gemähten Feld von einem Raben bei lebendigem Leibe aufgepickt wird.
Die Geschichte spielt zwar in tiefster Provinz, liest sich aber universell. Es beschreibt die Welt der Abgehängten und sorgt so für einen Perspektivwechsel angesichts der viel zitierten Kluft zwischen Land und Stadt. Außerdem ist der Plot spannend wie ein Krimi – inklusive brutalem Überfall und später auch einem Toten. Auf knapp 300 Seiten wird ein großer Spannungsbogen aufgebaut, den der Autor am Ende doch arg überspannt. Aber bis dahin bietet das Buch ein höchst unterhaltsames und aufschlussreiches Lesevergnügen.
Infos:
Tommy Wieringa: "Santa Rita", übersetzt von Bettina Bach, Hanser Verlag, 287 Seiten, 22 Euro
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 27. August 2019, 9:40 Uhr
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