6. Februar 2019, 18:05 Uhr
Es gibt nicht mehr viele Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Inge Berger aus New York ist eine von ihnen. Aufgewachsen in der Bremer Neustadt erfuhr sie den Terror der Gestapo und die Schrecken der Reichspogromnacht. Sie und ihre Familie wurden ins Ghetto Theresienstadt deportiert.
Inge Berger
Aufgewachsen ist Inge Berger als Inge Katz Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Flüsseviertel in der Bremer Neustadt. In fast jeder Straße um die Ecke habe Verwandschaft gelebt, erinnert sich die heute 94-Jährige noch ganz genau. In der Delmestraße ging sie zusammen mit Cousine Ruthie zur Schule.
Zuerst habe ich in der Schule keine Schwierigkeiten gehabt. Wir, meine Cousine und ich, konnten an allem teilnehmen. Wir haben zusammen in der Schule gesessen, haben die Ausflüge zusammen unternommen – bis Hitler zur Macht kam. Da war das auf einmal vorbei.
Inge und Ruth gingen regelmäßig zur Bremer Turngemeinde. Nach einer Weile wurde ihnen dort das Mitmachen verboten.
Wir fragten: Wieso dürfen wir nicht mehr kommen? – "Wir dürfen keine jüdischen Kinder mehr in unserem Verein haben". – Das war für uns natürlich sehr traurig. Als Kinder konnten wir das ja nicht verstehen.
Inge Bergers Vater Carl Katz war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde. In den Dreißiger Jahren terrorisierte die Gestapo die Familie. Immer wieder erlebte die kleine Inge Hausdurchsuchungen, Gängeleien, Gewalt. "Wir waren machtlos, wir waren schutzlos", erinnert sich Inge Berger heute. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 erfuhr die Familie Katz am eigenen Leib, dass selbst ihr Zuhause sie nun nicht mehr schützen konnte.
In der Nacht vom 8. auf den 9. November stürmte die SS in unser Haus und zertrümmerte, was nicht niet- und nagelfest war. Es war furchtbar. Meine Großmutter bekam einen Ohnmachtsanfall – so etwas hatten wir nicht erwartet. Und dann hatte man meinen Vater mitgenommen, verhaftet, und er wurde in das Konzentrationslager Sachsenhausen geschickt.
"Die letzten Zeugen"
In unserem Fernsehmagazin buten un binnen ging es vor zwei Wochen in einer Serie um das Leben der Kinder in Bremen während des Krieges, um das Schicksal junger Frontsoldaten und um die Menschen, die aus Ostpreußen nach Bremen flüchteten. Alle Videos auf www.butenunbinnen.de
Der Vater kam frei, die Mutter klapperte Konsulate ab, um Ausreisemöglichkeiten zu finden. Derweil musste musste Inge Berger als Schneiderin gelbe Sterne auf Kleidung befestigen. Am 23. Juli 1942 wurde sie gezwungen, einen der Deportationszüge besteigen. Sie zog das neue Kostüm, das sie zum 18. Geburtstag bekommen hatte, an.
Wir konnten uns ja nicht vorstellen, wohin wird die Reise gehen. Wir haben die Stationen gesehen und auf einmal war da "Tschechoslowakei". Und der Zug fuhr weiter, weiter ins Land. Und der Zug hielt, die Station hatte ein Zeichen, da stand "Bauschowitz".
Inge Berger wurde nach Theresienstadt in leerstehende Häuser ohne Möbel, ohne fließend Wasser und ohne Toilette, gebracht. Die Großmutter starb nach zwei Wochen, weil das Gepäck mit den Medikamenten nie wie angekündigt nachgebracht wurde. 40.000 Menschen lebten dort Ende 1942 im Ghetto. Viele Alte starben schnell durch Mangelernährung und wegen Krankheiten, die sich durch die katastrophalen hygienischen Zustände schnell verbreiteten.
Es war einfach furchtbar. Unglaublich, dass man Menschen so etwas antun kann. Ich kann mir das heute gar nicht mehr vorstellen, wie so etwas möglich ist. Dass Menschen einem so etwas antun können.
Im Ghetto lernte Inge Schmuel Berger kennen, einen jungen Tschechen, der in einer Bäckerei arbeiten musste. Seine Brotration teilte er mit Inges Familie. Eines Tages sollte er weiterdeportiert werden – nach Auschwitz. Für eine Rose zum Abschied aus dem Garten eines Nationalsozialisten riskierte er sein Leben. Diese Rose hat Inge Berger heute noch. Schmuel überlebte Auschwitz und Dachau abgemagert und krank. Wenn der Krieg noch länger gedauert hätte, hätte er nicht überlebt, ist sich Inge Berger sicher.
Als der Krieg am 8. Mai 1945 endete, hatten Inge und ihre Familie in Bremen kein Zuhause mehr. Doch der Weg führte sie zunächst zurück. Im August stieg sie mit ihren Eltern auf einen Lastwagen in Richtung Hamburg, Freunde ihrer Eltern nahmen sie in Bremen auf. Am 1. Januar 1946 trafen sich Inge und Schmuel in Bremen in der Georg-Gröning-Straße wieder. Doch die Vorbehalte gegen Juden waren nicht sofort aus der Nachkriegsgesellschaft getilgt. Inge Berger hatte nicht das Gefühl, in Bremen frei sagen zu können, dass sie Jüdin ist.
Als wir nach Bremen zurückkamen, war es eine andere Welt für mich. Die Erlebnisse, die ich damals als junges Mädchen erlebt habe, hatte ich so vor Augen, dass ich eine schwere Zeit hatte, mich wieder an die Menschen zu gewöhnen, die mir so viel angetan haben. Meine Jugend hat man mir genommen – die konnte mir keiner wiedergeben.
Inge und Schmuel Berger wollten frei leben. 1955 gingen sie nach New York, wo Inge Berger heute mit ihrer Familie im Stadtteil Queens lebt. Ihre Enkelin Elise Garibaldi hat die Geschichte ihrer Großmutter aufgeschrieben und unter dem Titel "Rosen in einem verbotenen Garten" als Buch veröffentlicht. Auch als Musical hält sie die Erinnerung an das Schicksal ihrer Großmutter wach.
Das ganze Gespräch zum Anhören:
"Meine Jugend hat man mir genommen" – Holocaust-Überlebende Inge Berger, [40:07]
Moderation: Martin Busch
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 6. Februar 2019, 18:05 Uhr
Wochenserie bei "buten un binnen": Die letzten Zeugen
"Roses in a forbidden garden" – Inge Bergers Geschichte als Musical in Bremen
Lizzie Doron, Israelische Schriftstellerin
Info: Gesprächszeit
Ob Promis, Politiker oder Menschen von nebenan: In der Gesprächszeit lernen Sie Menschen kennen. Denn die Interviews sind intensiv, ehrlich und nah.
Sendezeit:
Mo. - Fr., 18:05 - 19 Uhr
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