Wir müssen die Gewalt anschauen

Klaus Hagedorn
Klaus Hagedorn

Wir müssen die Gewalt anschauen

Bild: Katholischer Gemeindeverband Bremen

Informationen zum Audio

Die Gewalt von Menschen ist zu benennen und anzuklagen, ohne in die Spirale der Gewalt einzusteigen. Davon ist Pastoralreferent Klaus Hagedorn überzeugt.

In unseren Breiten können immer weniger Menschen etwas mit dem Kreuz anfangen. Es verschwindet leise aus Wohnungen und Gebäuden. Dabei ist das Kreuz das wichtigste Symbol des Christentums. Aber es will nicht mehr recht in unsere Kultur passen. Daran muss ich an diesem Sonntag – dem Palmsonntag – denken, denn heute beginnt für Christinnen und Christen die Karwoche. Gleichzeitig erreichen uns tagtäglich Nachrichten von Kreuz-Erfahrungen: von unvorstellbarer Gewalt, Krieg, Flucht, Tod – von Mord, Terror, Missbrauch, Hunger. Da drängt sich quasi Gewalt auf, täglich angeschaut zu werden. Das ist oft kaum auszuhalten. Menschen werden geschunden, vertrieben, vergewaltigt, geschlagen, getötet, zu Opfern gemacht. Das Kreuz ist doch – in der Tat – ein Stück unserer Realität. Das Kreuz, das auf Golgatha in die Erde gerammt ist, steht für diese Realität. Es bildet die nackte Wahrheit ab. Der da hängt, ist ausgezogen, seiner Kleider beraubt, ist ein Opfer menschlicher Gewalt – mit einem "Haupt voll Blut und Wunden". Kann es sein, dass wir dies nur schwer aushalten können? Ist das der Grund, warum wir Kreuze seltener aufhängen, sie vergolden, versilbern oder künstlerisch "schön" machen?

Ein Folterinstrument als Zeichen ist eine übergroße Zumutung, weil es Gewaltanschauung pur ist. Mit dem Kreuzestod haftete an Jesus das Stigma des Von-Gott-Verfluchten, des Von-Gott-Verlassenen. Durchblick kam erst später. Und mit ihm die Einsicht, die Gewalt und die Not von Menschen anschauen zu müssen. Keine Religion stellt so entschieden wie das Christentum den geschlagenen Menschen in den Mittelpunkt seines Glaubens und seiner Hoffnung. "Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben." So steht es auch wörtlich im Johannes-Evangelium (19,37).

Leiden und Tod werden nicht länger wegerklärt, wegmeditiert oder weggeschoben. Sie werden im zentralen christlichen Zeichen dargestellt. Gewaltanschauung ist angesagt. Die Gewalt, zu der Menschen fähig sind, ist anzuschauen, zu benennen und anzuklagen, ohne in die Spirale der Gewalt einzusteigen. Die Opfer sind anzuschauen und zu erinnern. Jesus von Nazareth ist einer von ihnen, für uns Christenmenschen der Inbegriff von Gottes Treue und Liebe und deshalb Trost. Für andere ist er ein Narr und ein Tor ohne Realitätssinn.

Die Begegnung mit dem "Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn" konfrontiert mich in den nächsten Tagen unerbittlich mit der Frage: Warum und wozu wird so viel gestorben und getötet? Hängt mein Wohl-Ergehen mit dem Schlecht-Ergehen anderer zusammen? Was kann ich tun, um Gewalt zu stoppen und Eskalation zu unterbrechen?

Autor/Autorin

  • Autor/in
    Klaus Hagedorn