Past Forward: Mental Health
Fast jeder dritte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Seit der Corona-Pandemie schießen die Zahlen in die Höhe. Einerseits scheinen sich heute immer mehr Menschen mit ihrer mentalen Gesundheit auseinanderzusetzen, Social Media ist voller „Mental Health“-Content. Andererseits haben viele Menschen immer noch Angst, offen über ihre psychischen Probleme zu sprechen: Wirke ich damit weniger belastbar auf meinen Arbeitgeber? Welchen Eindruck hinterlässt das bei Freundinnen, Freunden und Bekannten? "Past Forward"-Reporterin Sophie Labitzke fragt: Ist das Tabu wirklich Geschichte? Der Film zeigt unterschiedliche Blickwinkel auf die Psyche im Wandel der Zeit: Wie und warum wurde aus psychischen Krankheiten ein so großes Tabu-Thema? Und ist das Tabu heute wirklich Geschichte? "Past Forward: Mental Health – Ist das Tabu Geschichte?" ist ab 13. März exklusiv in der ARD Mediathek verfügbar.
"Past Forward: Mental Health – Ist das Tabu Geschichte?"
Beim Blick in die Fernseharchive der 1970/80er stellt Sophie fest, wie groß damals noch die Angst der Menschen davor war, als „verrückt“ eingestuft zu werden, wenn sie sich professionelle Hilfe suchen. Viele haben Gespräche mit Familie und Freunden darüber deswegen gemieden – oder aber den Gang zum Psychotherapeuten. Auch aus Unwissen wurden psychische Erkrankungen oft gar nicht erkannt.
Als es Nova Meierhenrichs Vater Anfang der 1990er plötzlich schlechter ging, war weder der Familie, noch ihm selbst klar, dass es sich dabei um eine Depression handeln könnte. Der Vater ließ sich erst Jahre später von seiner Familie zu einer Therapie überreden, doch die Behandlungen blieben ohne Erfolg – 2011 nahm sich Nova Meierhenrichs Vater das Leben. Eine Boulevard-Zeitung erfuhr ein Jahr später von der Familiengeschichte und erpresste die Moderatorin damit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Im Gespräch mit Reporterin Sophie Labitzke erzählt Nova Meierhenrich von den damaligen Reaktionen auf ihre Geschichte. Erfährt sie heute deswegen noch Stigmatisierung?
Auch aus Angst vor der Psychiatrie haben viele ihre mentalen Probleme lange für sich behalten. Die Psychiatrie – ein Ort, an dem in der NS-Zeit mindestens 250.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen ermordet wurden. Ein Blick ins Archiv macht deutlich, wie groß die Angst vor einer Zwangseinweisung auch danach noch war: „Wie leicht kommt man ins Irrenhaus?“ – der Frage ging 1967 der SWR nach. Bis zur Therapiereform in den 1970ern war die Versorgung psychisch Kranker in Psychiatrien der Bundesrepublik in weiten Teilen menschenunwürdig. Medizinhistoriker Dr. Oliver Falk von der Charité Berlin erklärt, wie es zu den Schreckensbildern kommen konnte.
Elektroschocks, hohe Medikamenten-Dosen: Auch in DDR-Psychiatrien bot sich ein ähnliches Bild. Ekkehardt Kumbier hat für die bundesweite Forschung „Seelenarbeit im Sozialismus“ mit vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gesprochen, die von ihrer Zeit in der „Geschlossenen“ berichten können. Auch, um herauszufinden, welchen Stellenwert Psyche und psychische Krankheiten in Politik und Gesellschaft hatten.
In der BRD wurden Mitte der 1960er Psychotherapien zur Kassenleistung, aber lange Wartezeiten schreckten ab: 1988 musste man bis zu zwei Jahre auf einen Therapieplatz warten. Sophie spricht mit der Bundestagsabgeordneten Kirsten Kappert-Gonther darüber, was die Politik seitdem für die Versorgung psychisch kranker Menschen getan hat. Die Grünen-Politikerin ist promovierte Psychotherapeutin und die aktuelle Vorsitzende des Bundesgesundheitsausschusses: Haben die aktuell fehlenden Therapieplätze etwas mit dem immer noch präsenten Stigma zu tun?
Janna Rohloff ist eine von vielen, die lange auf einen Therapieplatz hat warten müssen. Dabei stellte die Bremerin fest, welche Lücken es im therapeutischen Bereich gibt. Um etwas gegen diese Situation zu unternehmen, hat die 35-Jährige „Brynja“ gegründet – das erste „Fitnessstudio für die Psyche“. Ein Zentrum für psychische Gesundheit für junge Erwachsene bis 40, das sich abheben soll von den klassischen Therapieangeboten. Tanzabende, Meditationskurse, Therapieboxen: Ein präventiver Ansatz. Beim Therapieboxen erzählt Janna, welche Tabus und Stigmata sie rund um unsere Psyche heute noch sieht.
Eine Dokness Produktion (Autorinnen Sophie Labitzke und Nadja Kölling) im Auftrag von Radio Bremen (Redakteurin Michaela Herold) für die ARD Mediathek 2024.
„Past Forward“
Es gibt viele Konflikte in unsere Gesellschaft – doch wie sind sie entstanden? Das ist der Erzählansatz von „Past Forward“, dem jungen Geschichtsformat in der ARD Mediathek. Ein Reporter oder eine Reporterin begibt sich in jeder Folge zu einem aktuellen Thema auf Spurensuche und erkundet Geschichte aus der Gegenwart heraus. Immer unter der Fragestellung: Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Dabei treffen sie auf Menschen, die mit Problemen der Gegenwart zu kämpfen haben, Menschen, die Vergleichbares oder gänzlich Entgegengesetztes in der Vergangenheit erlebt haben und sie entdecken historische Filmaufnahmen. Expertinnen und Experten helfen bei der Einordnung des Erlebten, Gesehenen und Erzählten. Archivmaterial mit Interviews und Originalkommentare sorgen dafür, dass Geschichte authentisch nachempfunden werden kann.
Der Hessische Rundfunk hat 2022 bereits sieben Pilotfolgen von „Past Forward“ produziert. 2023 sind der MDR und Radio Bremen mit eingestiegen und alle ARD-Landesrundfunkanstalten haben entschieden, dieses Format gemeinsam weiterzuentwickeln und zu einem Gemeinschaftsprojekt der ARD Mediathek zu machen.