Ukraine-Appell des Rundfunkrats von Radio Bremen

Pressemitteilung des Rundfunkrats von Radio Bremen

Ukraine-Appell des Rundfunkrats von Radio Bremen

Der Rundfunkrat von Radio Bremen hat sich einstimmig dem Ukraine-Appell des Rundfunkrats des Hessischen Rundfunks angeschlossen.

Der Rundfunkrat von Radio Bremen verurteilt den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und den damit einhergehenden Bruch des Völkerrechts. Der Krieg und besonders die fortgesetzten Angriffe auf Zivilbevölkerung, besonders verletzliche Gruppen und Einrichtungen, die schon jetzt zu einer humanitären Katastrophe geführt haben, müssen sofort eingestellt werden. Der Rundfunkrat von Radio Bremen steht solidarisch an der Seite der Menschen in der Ukraine.

Der Rundfunkrat von Radio Bremen sieht mit Sorge, wie die eklatant eingeschränkte Presse- und Informationsfreiheit eine unabhängige Berichterstattung in Russland fast vollständig unterbindet. Er unterstützt die Haltung der ARD, der Sicherheit der Korrespondentinnen und Korrespondenten Vorrang zu geben. Er fordert Staatspräsident Putin nachdrücklich auf, für in- und ausländische Journalistinnen und Journalisten Medienfreiheit umgehend wieder herzustellen.

Der Rundfunkrat von Radio Bremen würdigt ausdrücklich den Mut all derer, die in Russland und Belarus für Meinungs- und Pressefreiheit eintreten. Er spricht all denen, die in und aus der Ukraine als Korrespondenten oder heimische Journalisten unter lebensbedrohlichen Bedingungen weiterhin berichten, seinen hohen Respekt aus.


"Kritisches Abwägen und gutes journalistisches Handwerk sind gefragt"

Zu Beginn der Sitzung ging der Rundfunkratsvorsitzende Dr. Klaus Sondergeld auf den Krieg in der Ukraine ein. In seiner Rede würdigte er auch die sachliche Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dabei lobte er die von Radio Bremen ins Erste gebrachte Reportage "Heimkehr in den Krieg" und die Doku-Serie "Wie Kinder den Krieg erleben", bei der Radio Bremen die Federführung hatte:

Dr. Klaus Sondergeld
Dr. Klaus Sondergeld Bild: Radio Bremen | Matthias Hornung

Liebe Mitglieder des Rundfunkrats,

unsere Sitzung findet in einer besonderen historischen Situation statt.

Heute vor fünf Wochen hat die russische Armee die Ukraine angegriffen. Die Ukraine verdankt ihre staatliche Existenz einer Volksabstimmung am 1. Dezember 1991: 90 Prozent stimmten für die Eigenständigkeit. Seither ist dieser Staat ein allseits anerkanntes Mitglied der Vereinten Nationen und steht unter dem Schutz des Völkerrechts, das nun mit brutaler Waffengewalt gebrochen wurde. Tagtäglich erfahren wir von unfassbarer Aggression, überwältigendem menschlichen Leid und brutaler Zerstörung. Wovon wir auch erfahren, ist eine beeindruckende Manifestation des Rechts auf Selbstbestimmung, eines Rechts, das jedem Menschen gleichermaßen zusteht und jeder Bevölkerung eines Staates.

In Cherson, der bislang einzigen vollständig russisch besetzten größeren Stadt, fordern sogar immer wieder Demonstrantinnen und Demonstranten dieses Selbstbestimmungsrecht friedlich ein und schauen dabei in die Gewehrmündungen der Besatzer, manche zum letzten Mal. In dieser Woche verifizierte Augenzeugen-Videos belegen, wie russische Soldaten unvermittelt auf unbewaffnete, wehrlose Menschen, Männer, Frauen, Kinder schießen.

Die friedlichen Proteste, offenbar auch andernorts, sind ein wahrlich beeindruckendes Zeichen einer mutigen, ja verzweifelt wagemutigen Zivilgesellschaft, die aber bitter lernen musste, dass ziviler Ungehorsam allein nicht reicht, wenn man sein Selbstbestimmungsrecht gegen hoch gerüstete Invasoren behaupten will. Dabei wollten die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer, so schrieb der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel vor einer Woche in "Christ und Welt", eigentlich nur vor allem eins: "in Ruhe leben, ohne messianischen Auftrag und imperiale Ersatzreligion".

Dieses selbstbestimmte Bedürfnis einer sich immer weiter pluralisierenden und demokratisierenden Zivilgesellschaft war vermutlich die eigentliche Bedrohung für die benachbarte kleptokratische Oligarchie und ihren zunehmend diktatorischen Anführer im Kreml – nämlich als verlockendes Vorbild von Nachbarn und Verwandten für die eigene Bevölkerung. Uns beeindrucken die Ukrainerinnen und Ukrainer mit ihrer unbeirrbaren Motivation, für einen Alltag in Frieden und Freiheit in unverletzlichen Grenzen zu kämpfen und dabei ihr Leben zu riskieren. Vielleicht aber beeindruckt uns diese wehrhafte Zivilgesellschaft nicht nur, sondern beschämt uns?

Einem nun schon arg strapazierten Ondit zufolge ist die Wahrheit das erste Opfer in einem Krieg. In ständig großer Gefahr ist auch die Vernunft, der Stoff, aus dem sich die Verantwortungsethik speist. Beiden Herausforderungen – in der Berichterstattung stets sorgsam zu recherchieren und wahrhaftig zu überprüfen, was Tatsache ist, und in der Einordnung, Erklärung, Bewertung und Kommentierung mit Vernunft und im Bewusstsein der Verantwortung für die öffentliche Meinungsbildung vorzugehen – sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ist auch Radio Bremen, nach meiner gewiss unsystematischen, aber durchaus intensiven Beobachtung bisher gerecht geworden. Das soll nicht heißen, dass das bei der privaten Konkurrenz oder in der Presse anders sei, da habe ich nur nicht so intensiv hingeschaut. Auf jeden Fall können wir froh und dankbar sein, dass wir ein vielfältiges Mediensystem haben, in dem ein breites Meinungsspektrum zu Wort kommt, mit einem staatsfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich sachlicher, objektiver Berichterstattung verpflichtet weiß.

Die Nachrichtenredaktionen sind im Umgang mit Quellen jetzt noch kritischer. In keinem Krieg, in keiner Krise habe ich bislang so oft den Hinweis gehört, dass sich eine Bildsequenz, eine Schilderung oder eine Zahlenangabe nicht unabhängig überprüfen lasse. Das ist gut so! Zugängliches Material, das verantwortbare Einblicke in das Geschehen vermittelt, gar nicht zu verwenden, wäre die schlechtere Alternative. Sie würde uns Rezipient*innen uninformierter lassen als notwendig.

In der Berichterstattung allen Kriegsparteien gleichermaßen quellenkritisch zu misstrauen, ist handwerkliche Voraussetzung für Objektivität. Genau so ist auch die Forderung des Radio Bremen-Gesetzes nach Unparteilichkeit zu verstehen. Objektivität und Unparteilichkeit heißt im vorliegenden Fall aber nicht Äquidistanz zu Angreifern wie Angegriffenen beim Moderieren, Kommentieren, Einordnen, Erklären und Bewerten.

Auch jetzt wird wieder das so nie gesagte und in Folge oft missverstandene Hajo-Friedrichs-Zitat buchstäblich ins Feld geführt, ein Journalist dürfe sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Journalisten, öffentlich-rechtliche zumal, sind sehr wohl unseren Grundwerten verpflichtet: Das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen wurzelt in Artikel 2 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in der UN-Charta normiert. Diese Selbstbestimmungsrechte sind eine "gute Sache", mit der sich jeder Journalismus gemein machen darf und sollte. Was wiederum nicht bedeutet, sich nicht kritisch auch mit politischen Entscheidungen der ukrainischen Regierung oder militärischen Maßnahmen der ukrainischen Armee auseinandersetzen zu dürfen und zu sollen.

Kritisches und selbstkritisches Abwägen und gutes journalistisches Handwerk sind gefragt. Meiner Beobachtung nach erfüllen ARD, ZDF und Deutschlandradio gerade auch jetzt diese anspruchsvollen Anforderungen. Wir können froh sein, dass es die öffentlich-rechtlichen Sender gibt und dass die Bevölkerung zu einem so übergroßen Teil Vertrauen gerade in die Flaggschiffe der Nachrichtenvermittlung hat.

Auch wenn mich persönlich zuweilen bei Talk-Shows, besonders am Sonntagabend, das Gefühl beschleicht, dass es die Vernunft gerade wieder sehr, sehr schwer hat – wenn nämlich mit moralischer Inbrunst vermeintlich kritisch-journalistische Fragen an vermeintlich entscheidungsschlappe saumselige Mächtige gerichtet werden, anstatt der Problemkomplexität verantwortungsethisch mit analytischer Tiefe Rechnung zu tragen. Aber das ist mein Empfinden, anderen mag es ganz anders gehen. Und so ist auch das nur ein Beleg für die Pluralität der Einschätzungen und Meinungen, die uns geboten wird.

Ausdrücklich lobend erwähnen möchte ich die Doku-Serie "Schau in meine Welt" auf KiKA, in der ukrainische Kinder Gleichaltrigen am Bildschirm von ihrem Alltag im Krieg und ihrem Schicksal berichten. Radio Bremen ist hier federführend und Michaela Herold die verantwortliche Redakteurin, die damit einmal mehr eine eindrucksvolle Arbeit macht.

Ausdrücklich lobend erwähnen möchte ich auch die "Heimreise in den Krieg" von William Dubas und János Kereszti, für die am Montagabend das Programm im Ersten zur Primetime geändert wurde. Für den Protagonisten der Reportage Volodymyr Skvortsov bedeutet Selbstbestimmungsrecht, seine Familie und sein sicheres Leben in Nordenham zurückzulassen, um seinem Land und seinen Landsleuten zu helfen – ganz praktisch und ganz ohne Nationalismus oder Hurrapatriotismus, einfach weil Hilfe gebraucht wird und es sich für ihn so gehört.

Ich beglückwünsche die ARD zu dieser Programmentscheidung. Mich überkam durchaus ein bisschen stolz, als die Einblendung des Logos anzeigte, dass diese einfühlsam zivile Reportage aus dem Krieg von Radio Bremen kam.

Der Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks hat vor zwei Wochen, dem Beispiel des ZDF-Fernsehrats folgend, eine Resolution zum Angriff auf die Ukraine beschlossen. Im Präsidium haben wir hin und her überlegt, was wir hier heute machen sollten. Wir waren uns fünf Wochen nach Kriegsbeginn nicht sicher. Der Text aus dem hr ist nach wie vor gültig und in seiner Knappheit und Klarheit kaum zu übertreffen. Deshalb würde ich allenfalls dazu raten, dass wir uns dieser Entschließung anschließen und keinen Wettbewerb in der ARD starten, wer die wortgewaltigere Resolution beschließt.

Als Sender hat Radio Bremen ja schon ein sichtbares Zeichen gesetzt mit seiner Lichterkette entlang der Weser.